ESSAYISTISCHES ÜBER DAS BÜCHERREGAL UND DEN VERSUCH VON KATEGORISIERUNGEN
Mein Regal beherbergt schon lange ein kleines Büchlein aus der Reihe „Insel-Bücherei“ – einen hübschen Flohmarktfund. Es steht auf dem Regalbrett, das die noch nicht sortierten oder widerspenstig unkategorisierbaren Bücher trägt. Sicher kennen Sie das: Wo wir ein Buch einsortieren, hat immer mit seinem Inhalt – manchmal sogar mit seiner Form oder Farbe zu tun. Wir versuchen es in unser System einzufügen. Es auf das Regalbrett – wie ein Blütenblatt in ein Herbarium – neben andere seiner Art zu pressen. In diesem Fall würde das Büchlein neben den anderen Büchern über Kräuter oder den voluminösen Bildbänden mit Heilpflanzen wohl verschwinden, denn es ist nur 12 × 18 cm klein und ca. 60 vergilbte Seiten schmal.
Ob diese kleinformatigen Bücher mit schönem Überzugpapier wohl jene sein sollten, die man metaphorisch auf eine einsame Insel mitnehmen würde? Hilfreich wäre das kleine Buch im Gepäck wahrscheinlich weniger auf der erträumten Südseeinsel als vielmehr auf Fehmarn oder Rügen. Denn es zeigt Illustrationen von Heilpflanzen und Kräutern aus dem europäischen Raum, die mir auf einer dieser Inseln für die neue grüne Hausapotheke nützen könnten. Doch vor allem sind es die farbigen Tafeln und Pflanzenillustrationen, die das kleine Buch interessant machen. Zumindest dachte ich das, bevor ich heute endlich auch seinen kurzen Textpassagen Aufmerksamkeit schenkte.
MEIN KLEINSTES + ÄLTESTES KRÄUTERBUCH

Tatsächlich kennt man die Insel-Bücherei bis heute als eine Reihe, die 1912 startete. Nach Angaben des Verlags (Suhrkamp/Insel) waren die, mit einem Preis von damals 50 Pfennig, günstigen Büchlein schnell ein großer Erfolg. Auch, wenn der Frankfurter und Leipziger Verlag in der Zeit des Dritten Reichs 30 Bücher aus dem Sortiment nehmen musste.
Das konnte meinem kleinen Kräuterbuch wohl nicht passieren. Das Wissen um Heilpflanzen schien zum Erscheinungsjahr 1936 nicht als systemkritisch eingeschätzt worden zu sein. Mehr noch, tatsächlich steckt in dem Büchlein manches, was sein zierender Einband mit Gänseblümchen und Knöllchen kaum vermuten lässt.
Die 36 Tafeln zeigen die bekannten Würz-, Duft- und Heilkräuter in schönster Blüte und mit jedem notwendigen Detail, um sie im Buch wie im Garten oder beim Inselspaziergang wiedererkennen zu können. Willi Harwerth war ein bekannter Grafiker, der bereits 1922 Goethes „Die neue Melusine“ und Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ für den Insel-Verlag illustriert hatte.
Nach den Tafeln folgen zwei Beiträge über „Mensch und Pflanze“ von Friedrich Schnack und „Heilbücher und Heilkunde“ von Sandro Limbach. So kurz diese Beiträge sind, so klar verweisen sie auf den Stil und die Ideen ihrer Zeit. Neben der Begeisterung für die Erforschung und Nutzung von Duft-, Heil- und Würzkräutern lassen sie Rückschlüsse auf das Verständnis der Beziehung von Mensch und Natur in ihrem zeithistorischen Kontext zu.

MIT PFLANZEN GESCHICHTE SCHREIBEN: ‚TEUFELSKIRSCHE‘ IN ‚HERRGOTTS-APOTHEKE‘
WELTBILD + KRÄUTERBILD
Das kleine Kräuterbuch sucht Wissen um Wirkung und Nutzung von Pflanzen zu vermitteln. Dabei wird in dem schmalen Band nicht darauf verzichtet, das Verhältnis von Menschen und Pflanzen in einen größeren, weltanschaulichen Kontext zu stellen: Die Heilkräuter entstammen der „Herrgotts-Apotheke“ (47). Auch Limbach nennt in seinem Artikel über „Heilbücher und Heilkunde“ als erste Quelle für das Wissen um Heilkräuter die Bibel. Es wird ein enger Bezug zwischen christlicher Religion, Natur als Schöpfung und den Heilkräutern hergestellt. Erst danach werden als Quellen des Wissens um Pflanzen auch antike Autoren wie Hippokrates von Kos erwähnt, der heute noch wegen des hippokratischen Eides nicht nur in der Medizin bekannt ist. Im Mittelalter hätten Mönche in Klostergärten das Wissen um die Wirkung von Pflanzen weitergetragen. Auch der Schweizer Arzt und naturphilosophische Autor Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim) wird genannt – seine alchimistischen Bestrebungen bleiben hier jedoch unerwähnt. Der Umgang mit Kräutern wird im kleinen Kräuterbuch als ein medizinisches, wissenschaftliches und christliches Wissen präsentiert.
WELCHE PFLANZEN GELTEN ALS HEILSAM? WIE SCHREIBEN PFLANZEN GESCHICHTE?
Dass Kräuter nicht nur würzen, sondern auch andere Wirkungen entfalten können, wird enthusiatisch beschrieben: „Wie kräftig schmeckt das Kümmelbrot, wie gut der Koriander in der Stulle!“ (44). Spannend ist, welche Kräuter nun in den Illustrationen neben Kümmel und Koriander folgen: Bei Fingerhut, Binsenkraut, Stechapfel und Tollkirsche wird die gespannte Leserin und der geneigte Kräuterkundler aufmerken. Denn sie sind nicht nur für ihren betörenden Duft bekannt.
Manche dieser Pflanzen sind hochgiftig. Ihre Wirkungen auf Menschen wurden und werden in der Medizin diskutiert. Spätestens seit dem Mittelalter wurden sie nicht selten als Mordinstrument zur Vergiftung genutzt. Darüber hinaus werden sie häufig mit Hexen* und Hexerei in Verbindung gebracht, da sie stark halluzinogen wirken: Sie wurden als Teil der „Flugsalben“ imaginiert, die zur Nachtfahrt und dem Hexen*flug angeregt haben sollen. Im Blick auf solche Vorstellungen von der Nutzung von Giften oder dem Begriff der Kräuterhexe wird deutlich, dass es auch Pflanzen sind, an welche die Erinnerung an die Geschichte der Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit geknüpft ist.





Die schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna L.) wird in diesem Buch auch Teufelskirsche genannt. Die Pflanze wird damit zwar buchstäblich verteufelt, ihre Wirkung jedoch gleichzeitig anerkannt: Sie soll hier gegen „Augenleiden“ helfen. Tatsächlich wurde sie seit dem Mittelalter in die Pupillen geträufelt, damit sich diese weiten und die Praktizierenden damit angeblich attraktiver wirkten. Wie Pflanzen selbst Geschichte schreiben? Vielleicht tun sie dies mit ihrem halluzinogenen Einfluss auf Menschen, wenn ihre Nutzung Teil der Kultur und des Alltags wird. Der Konsum von Teilen des Nachtschattengewächses führt zu starken Sinnestäuschungen oder zum Tod. Die Tollkirsche wurde zur Giftpflanze des Jahres 2020 ernannt. So wird es in der Kampagne „Magie der Kräuter“ in Marburg beschrieben.
REZEPTE + RHETORIKEN AUS ALTER TRADITION
Um diese Wirkungen der Kräuter zu erklären, beruft sich der Autor auf die „guten alten Werke über Heilpflanzen“ (43), diese könnten sich nicht getäuscht haben. Damit stellt er sich in eine Tradition der Herbarien und Kräuterillustration, die spätestens seit der frühen Neuzeit blühte und auf deren Inhalte und Argumentationsweisen noch heutige viele Kräuterbücher zurückgreifen. Was sich optisch ähnlich sieht wirkt: So wie Walnüsse fürs Gedächtnis dienlich sein sollen. Liest man die begeisterten Zeilen über die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten der Kräuter, die uns heute noch bekannt erscheinen, überliest man schnell die weitere Wortwahl. Doch sie zeigt auf, dass selbst in Kräuterbüchern viel von ihrer Zeit und Weltanschauung steckt.

PFLANZEN MACHEN GESCHLECHT: DER MENSCH + DIE PFLANZE
BILDER DER VORSTELLUNG VON NATUR
„Das früheste und mächtigste organische Lebewesen unserer Welt ist die Pflanze“ (42). So startet Schnack mit dem dramatischem Einstieg einer Weltentstehungsgeschichte in seinen Artikel über „Mensch und Pflanze“. Auf die Pflanzenillustrationen folgend leitet dieser Artikel in den Textteil des Buches, die kleine Kräuterkunde, über.
„Ehe Tier und Mensch die Erde betraten, war sie da. Sie ist der Sendling des Lichts, der schöne Herold der Schöpfung, der Vorbote des späteren höher gestuften Lebens, die biologische Voraussetzung für das Gedeihen tierischen und menschlichen Seins.
Die grüne Mutter nährt alle. Die Pflanze, Tochter einer noch älteren Mutter, der Meeresmutter, ist aus dem Wasser geboren. Wie Venus ist sie dem Schaum entstiegen. Die vom Wasser bestimmte, nach Feuchte verlangende Wesensart hat sie auf dem Trockenen gehalten. Ihr Blatt wurde von der Schwellkraft des Wassers gebildet. Wann seine Feuchte verdunstet, zerfällt sein Gewebe zu Staub.
Die alte mütterliche Feuchte hat sich im Pflanzenleib zu Chlorophyll verwandelt, zu Pflanzenblut.“ (42)
In diesen wenigen Sätzen wird nicht nur eine christliche Schöpfungsgeschichte, mit kleinem Exkurs auf die griechische Mythologie, nacherzählt. Sondern der Autor entwirft neben einem zeitlichen Ablauf auch eine Erzählung über verschiedene Sphären und deren zugeschriebene Funktionen und Hierarchien: Erstens die Sphäre des Menschen und der Tiere und zweitens die Sphäre der alten Meeresmutter, der grünen Mutter und ihrer Töchter (metaphorisch gemeint ist die Flora). Damit stellt er den Menschen auf eine höhere evolutionäre Stufe als die pflanzlich-natürliche Welt. Nebenbei wird diese sehr feuchte Natur auch mit Weiblichem und mit Fortpflanzung assoziiert, die damit rhetorisch in die Sphäre des Natürlichen verortet werden. Dieser Idee einer mütterlich, reproduktiven Natur wird der Mensch in seiner „mechanischen Welt“ (48) entgegengesetzt, wie es ein weiteres Zitat unten aufzeigen wird.
Mit neueren Theorien um Symbiogenese und die enge Verbindung von Menschen, Tieren und Pflanzen in einem Ökosystem – die wir nun fast 100 Jahre später diskutieren – hat dieses Kräuterbüchlein nicht viel gemein. Der Wunsch einer Rückkehr zur Natur und einer idealisierten Vorstellung von vergangener oder verlorener Natürlichkeit ist jedoch auch manchen heutigen Debatten nicht ganz fern, wenn er sagt: „Wenn er [gemeint ist der Mensch] aus seiner Stadtfremde, seiner Verstandesferne und seinen mechanischen Welten zu ihr [gemeint ist Mutter Natur] zurückkehrt, von der er ausging, wird sie ihn zu seinem leiblichen und seelischen Heile aufnehmen. Solle sich aber einst in unausdenklicher Zukunft der kosmische Tod auf ihre Fluren und Wälder niedersenken, wäre mit ihrem Ende auch sein Ende gekommen“ (48). Diese Äußerung zur existenziellen Abhängig von der Natur, ist aktuellen Überlegungen um Weltkonzepte als Gaia oder das Zeitalter des Anthropozän vielleicht nicht ganz unähnlich, auch wenn sich die Entstehungskontexte, Beweggründe der Argumentation und deren Implikationen unterscheiden. Auch damals war die Reflexion über das Verhältnis von Menschen und Umwelt eine gesellschaftlich relevante Sache, die sich in vielen Bereichen des Alltags und der Kultur widerspiegelte – ein großes Thema, für so ein kleines Kräuterbüchlein!
(MIT) PFLANZEN GESCHICHTE SCHREIBEN
DER NUTZEN VON PFLANZEN + METAPHERN
Warum in einem Buch über Kräuter so umfangreich über Feuchte und über (menschliches) Blut geschrieben wird, kann uns wohl nur der Autor in seiner Zeit erklären: „Durch abermalige verfeinernde Umsetzung im Menschenleib wurde aus dem mit der Nahrung aufgenommenen grünen Saft des Pflanzengeäders rotes Blut. Ohne Pflanzenblut kein Menschenblut“ (42). Er nutzt diese Metaphorik, um auf die Bedeutung der Wirkung von Pflanzen auf die menschliche Ernährung und den Einfluss auf die Gesundheit hinzuweisen: Die Pflanzen würden dem Boden die Kräfte entziehen und die Menschen stärken, die sie verzehren.
Was er mit dieser Rhetorik gleichzeitig auch tut, sind Narrative seiner Zeit zu bedienen: Eine dramatische Erzählweise um Blut und Werden, Naturbezug und Weiblichkeit als reproduzierende Mütter mit einer evolutionären Vorstellung von Menschen als sogenannte „höhere Stufe“ des Lebens, verweisen auf die Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus.
Anhand dieses schlaglichtartigen Blicks auf die Rhetorik der kleinen Kräuterkunde wird der enge Zusammenhang von Vorstellungen von Gesellschaft und Geschlecht mit der Konzeption von Natur und Zuschreibungen an Pflanzen deutlich. Diese implizierten Gesellschafts- und Geschlechterbilder reproduzieren nicht nur die Normen ihrer Zeit, sondern suchen sie durch die Geschichte von einer Weltentstehung als naturgegeben darzustellen. Was diese Trennung von der Idee eines kulturschaffenden Menschen und der lebensspendenden Natur auch über soziale Zuschreibungen von Geschlecht in der Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussagen kann, ist es wert an anderer Stelle ausgiebiger diskutiert zu werden.
LEICHT VERSTAUBT:
WAS SO ALLES IM BÜCHERREGAL SCHLUMMERT
Auch in einem kleinen Buch über Kräuter kann viel von der Zeit stecken, aus der es stammt. In meinem Fall aus dem Leipzig der 1930er Jahre. Das Wissen um Kräuter zeigte sich als facettenreich – historisch durch Traditionen und zeitgenössisch durch Ideologien und Weltbilder beeinflusst. Nun werde ich das Kräuterbuch wahrscheinlich auf das Regalbrett mit den historischen Quellen einordnen. Mein kleines Kräuterbuch ist so beliebt, dass es 1987 und 2014 erneut aufgelegt wurde.
Was sich wohl alles in anderen Kräuterbüchern – beispielsweise aus dem Jahr 2020 – finden lässt? Welche Hierarchien und Bezüge zwischen Mensch und Natur, Tier und Pflanze, werden mit anderen Kräuterbüchern aufgemacht? Welche Gesellschaftsbilder und Naturkonzepte stecken hinter heutigen Erzählungen um Pflanzen und Kräuter?
Nachlesen:
Über die Reihe Insel-Bücherei bei Suhrkamp/Insel.
Willi Harwerth Hg. (1936), Das kleine Kräuterbuch. Einheimische Heil-, Würz- und Duftpflanzen. Insel-Bücherei Nr. 269. Leipzig.
Einträge der Bücher und Information im DNB: Johann Wolfgang von Goethe (1922), Die neue Melusine, mit Illustrationen von Willi Harwerth; Willi Harwerth (1936/1987/2014), Das keine Kräuterbuch; Gottfried Keller (1922), Kleider machen Leute.