Das Verständnis, was Hexen sind, bewegt sich zwischen Zuschreibungs- und Aneignungsprozessen, zwischen Abwertung und Selbstermächtigung.
Dieser Beitrag möchte als Auftakt Aspekte des historischen Phänomens der ‚Hexen‘ der frühen Neuzeit vorstellen, um mit einem Ausblick in aktuellere Entwicklungen zu enden. Vielfältige Rezeptionen in Kunst, Literatur aber auch positive Wiederaneignungen begleiten die Hexen bis in die Gegenwart. Was Hexen sein können oder sollen, wird in unterschiedlichen Beiträgen immer wieder thematisiert werden.
„HEXE!“ ALS ZUSCHREIBUNG VON ANDEREN
Die ‚Hexe‘ lässt sich zunächst verstehen als ein soziales Rollenmuster (Mohr) oder kulturelles Deutungsmuster (Honegger) des frühneuzeitlichen Europa. In dieser Perspektive ist die Hexe in erster Linie eine innerhalb einer Gesellschaft und im Alltag anzutreffende Vorstellung, die Handlungen und Ereignisse in einer bestimmten Weise deutet und auf konkrete Personen anwendet.
Wer oder was eine Hexe ist, wäre so gesehen also eine Zuschreibung der umgebenden Gesellschaft.
HEXEN IN EUROPA: MEHRFACH AUSGEGRENZT
Aus (religions)wissenschaftlicher Perspektive setzt sich dieses kulturelle Deutungsmuster aus historisch spezifischen Komponenten zusammen, die zu unterscheiden sind von Erklärungs- und Handlungsmustern von Hexerei und Zauberei in außereuropäischen Kontexten. Die in Europa entwickelte Klassifikationskategorie ‚Hexe‘ speist sich wesentlich aus einer mehrfachen Abgrenzung gegenüber nicht-christlichen Religionen und religiösen Praxen sowie innerchristlichen Konflikten um sogenannte ketzerische oder häretische, also von der Lehrmeinung abweichende Gruppierungen. Dabei ging es stets um die Aufrechterhaltung von Deutungs- und Handlungsmacht der (theologischen, aber durchaus auch weltlichen) Eliten. Autorität galt es auch gegenüber von Laien durchgeführten Praktiken wie Schadensabwehr oder Heilung durchzusetzen. Diese Praktiken waren in Teilen gleichzeitig auch die Quellen für die den Hexen zugeschriebenen Charakteristika, die schließlich als strafbar klassifizierte Handlungen galten. Seit dem 15. Jahrhundert machten die Komponenten Schadenzauber, Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft (der Geschlechtsakt), der Flug und der Hexensabbat (Treffen an bestimmten Orten) den dann auch so bezeichneten Begriff der Hexerei als Delikt aus.
MARBURGER FÄLLE VON HEXEREI
Wie zeigte sich Hexerei als soziales Rollenmuster im Alltag der Menschen? Nicht alle Kriterien mussten erfüllt sein, damit es zur Anklage kam, und jeder Fall hatte seine eigene Dynamik. Verschiedene Akteur*innen hatten unterschiedliche Interessen und Vorgehensweisen. Das zeigen Beispiele auch aus Marburg, selbst wenn die Quellenlage in manchen Fällen ungenau verbleibt.
Der 15-Jährige Hans Sang aus Biedenkopf beschuldigte sich 1631 selber und erzählte ausführlich von Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft, wobei ihm der Teufel als Jungfrau erschienen sei. Er berichtete auch von Liebes- und Schadenzauber. Es kam zum Prozess: Gutachten der Theologischen und Juristischen Fakultäten wurden eingeholt. Die Theologische Fakultät drang aufgrund seiner Jugend und wohl auch geminderten Verstandes auf Verwahrung im Elternhaus oder einem anderen Ort und (auch körperlicher) Disziplinierung. Doch die Juristische Fakultät plädierte angesichts der Vergehen und um ein exemplarisches Beispiel zu geben, dafür, ihn aus der christlichen Gemeinschaft zu entfernen und empfahl die Hinrichtung. Landgraf Georg schloß sich dem zum Zweck der Abschreckung an, und Hans Sang wurde 1631 enthauptet und verbrannt.
In dem Fall von Elisabeth George aus Kirchhain genügte ein undatierter Bericht des Kirchhainer Pfarrers, sie und ihre Mutter seien nicht zur Kirche und zum Abendmahl gekommen, als Verdachtsmoment. Der Ruf gerade auch der weiblichen Vorfahrinnen konnte dann von entscheidender Bedeutung sein. Gab es bereits Zauberei-Vorwürfe in der Familie? Elisabeth George sah sich anschließend mit Vorwürfen von Verzauberungen und dem Abschwur von Gott konfrontiert. 1654 saß sie zunächst in Kirchhain in Haft, wurde dann nach Marburg verlegt und der ‚peinlichen‘ Befragung, also der Folter, unterzogen. Auch ein vermeintliches Teufelsmal wurde am linken Arm gefunden. Elisabeth George gestand nicht, so dass es zu drei peinlichen Befragungen kam. Bei der letzten verstirbt sie, das Protokoll notierte „(…) hatt fort geschlafen ihren Hexen Schlaff (…)“.
HEXEN IN DER GEGENWART: WITCHCRAFT + WICCA
‚Hexen‘ und ‚Hexerei‘ sind aber nicht nur abwertende Zuschreibungen, sondern wurden auch zu positiven Selbstverständnissen innerhalb religiöser und emanzipatorischer Aneignungsprozesse.
Doreen Valiente, die seit den 1950ern eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Etablierung der zeitgenössischeren Formen von Witchcraft und Wicca in erster Linie in Großbritannien spielte, schrieb in ihrem 1978 erschienenen Buch „Witchcraft for Tomorrow“ über die individuelle Freiheit der Ausübung von Religion wie des Hexenwesens. Sie tat dies mit Verweis auf die Internationale Menschenrechtscharta, Art. 18. und schrieb: „You have a right to be a pagan if you want to be.“ – du hast das Recht, ‚Heide‘ zu sein, wenn du das willst. Von den Hexen der frühen Neuzeit, die sich der oft tödlich verlaufenden Anschuldigung kaum entziehen konnten, bis zum Recht der Ausübung einer Religion, deren Anhänger*innen sich als Hexen bezeichnen können, war es ein langer Weg.
Die zeitgenössische Hexe Pam Grossman schreibt dazu, dass man immer an diejenigen denken sollte, die als Hexen verfolgt und getötet wurden:
„Sich mit Stolz als Hexe bezeichnen zu können, ob nun ironisch oder absolut aufrichtig, ist ein großes Privileg. Zwar kann man es nie ganz gefahrlos tun, aber die von uns, die diese Bezeichnung in der Öffentlichkeit verwenden, haben das große Glück, dieses Risiko eingehen zu können.“
Nachlesen:
Claudia Honegger (1978) (Hg.), Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Frankfurt/Main.
Doreen Valiente (1978), Witchcraft for Tomorrow, London/ New York, Zitat hier S. 22.
Hubert Mohr (1993), Hexe/Hexenmuster, in: Handwörterbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart, Bd.3, S. 122-138.
Pam Grossman (2019), Waking the Witch. Die Kraft der Neuen Weiblichkeit, Berlin, hier S. 357.
Ronald Füssel (2020), Gefoltert. Gestanden. Zu Marburg verbrannt. Die Marburger Hexenprozesse, Marburg, hier S. 123ff. und S. 129f.