Auf die Gefahr entdeckt, und, wie ich deutlich dachte, hart gestraft zu werden, blieb ich stehen, den Kopf lauschend durch die Gardine hervorgestreckt. Mein Vater empfing den Coppelius feierlich. »Auf! – zum Werk«, rief dieser mit heiserer, schnarrender Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog still und finster seinen Schlafrock aus und beide kleideten sich in lange schwarze Kittel. Wo sie die hernahmen, hatte ich übersehen. Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, dass das, was ich solange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. Allerlei seltsames Geräte stand umher.
Ach Gott! – wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein grässlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum hässlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hellblinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. »Augen her, Augen her!« rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme.
E. T. A. Hoffmann (1817), Der Sandmann.
(Zitat aus E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, 1816/17)
NATHANAELS VORSTELLUNG VOM SANDMANN
Die Geschichte von Nathanael ist spannend. Erzählt er sie doch von seiner Kindheit an. Und seither wird er von der Vorstellung des Sandmanns, Coppelius oder Coppola* verfolgt, der ihm seine Augen stehlen will. Die Erinnerung an den Anblick der alchimistischen Experimente wird ihn sein Leben lang verfolgen, denn er sieht sie in neuen Bekanntschaften immer wiederkehrend. Sehen und Augenlicht, Erkenntnis und Alchemie der Wandlung von Materie in etwas Anderes – der Sandmann arbeitet mit Augenhöhle und Schmelztiegel zugleich! Das Kunstmärchen der Romantik hat jedoch noch mehr inhaltliche Ebenen und erzählerische Tiefe zu bieten, als nur den Schauer: Instrumente des Sehens und der (verschobenen) Weltwahrnehmung; Naturerforschung und Naturbeherrschung; Rationalität und Emotionalität; Kontrolle und Wahn. Doch das liegt alles im Auge der Betrachter*innen: lesen oder hören Sie selbst ein paar Zeilen.
DEN SANDMANN HÖREN
Hören Sie hier in einem Podcast der Hörtheatrale, was die Pflanze Frauenmantel (Alchemilla vulgaris) mit Alchemie und dem gefährlichen Sandmann des deutschen Schriftstellers E. T. A. Hoffmann zu tun hat und warum beides im Alten Botanischen Garten in Marburg zu finden ist.
Weitere Podcasts der Hörtheatrale finden Sie an den Orten der „Heilpflanzenoasen“ in Marburg. Sie sind erkennbar an bunt gestalteten Bänken, die verschiedenen Heilpflanzen und Kräutern und ihren zugeschriebenen Wirkungen von Energietanken und Entspannen über Liebe bis hin zu Träumen gewidmet sind. Die 12 frei zugänglichen Spielorte sind rund um die Uhr entlang eines Spazierpfads in der Marburger Altstadt zu entdecken: Vom Alten Botanischen Garten durch die Oberstadt bis zum sog. Hexenturm am Schloss.
DEN SANDMANN SEHEN:
“ … AUGEN HER! AUGEN HER! RIEF COPPELIUS …“
Wer sich auch für die Augen im Sandmann und das Sehen und die visuellen Instrumente als Metapher bei E. T. A. Hoffmann interessiert, dem sei der Beitrag von Christophe Koné „Der Sandmann: Das Augenmotiv als Trompe l’œil“ auf dem E. T. A. Hoffmann Portal der Staatsbibliothek zu Berlin empfohlen.
Nachlesen:
*E. T. A. Hoffmann benannte seine Figuren so, dass sie Hinweise auf deren Charakter und ihre Rolle in der Geschichte gaben.
E. T. A. Hoffmann (1817), Der Sandmann.
Christophe Koné, Der Sandmann: Das Augenmotiv als Trompe l’œil, E. T. A. Hoffmann Portal, Berlin.
Foto von Pexels, (Pixabay License)